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Digitale Barrierefreiheit in Europa
Der Countdown läuft

1. Was heißt eigentlich Barrierefreiheit?

In einer zunehmend digitalisierten Welt, in der der Online-Handel weiter stetig wächst und der stationäre Einzelhandel zunehmend an Bedeutung verliert, durchdringt das Digitale mittlerweile alle Lebensbereiche.

Europaweit leben rund 100 Millionen Menschen. Fast 27 % der Bevölkerung ab 16 Jahren – mit einer Behinderung oder einer funktionalen Einschränkung. Trotz des digitalen Fortschritts sind diese Menschen beim Zugang zu essenziellen Onlinediensten noch immer weitgehend ausgeschlossen: Laut einem Bericht von Emmaüs Connect und dem französischen Roten Kreuz, erfüllen weniger als 30 % der öffentlichen Websites die internationalen Barrierefreiheitsstandards. Bei privaten Websites lag dieser Anteil 2022 sogar nur bei 3 %.

Vor diesem Hintergrund gewinnen die gesetzlichen Anforderungen an die digitale Barrierefreiheit stark an Bedeutung. Sie stellen sicher, dass digitale Werkzeuge und Angebote allen Menschen zur Verfügung stehen. Rechtliche Rahmenbedingungen, wie die europäische Barrierefreiheitsrichtlinie (European Accessibility Act, EAA), sorgen dafür, dass Menschen mit Behinderungen vollumfänglich am modernen, digital geprägten Leben teilhaben können.

Insbesondere werden mit der EU-Richtlinie auch private Unternehmen verpflichtet, digitale Barrierefreiheit herzustellen. Das Gesetz tritt am 28. Juni 2025 in Kraft und stellt eine wichtige Weichenstellung für die digitale Teilhabe dar.

2. Für wen gelten die Verpflichtungen zur Barrierefreiheit?

Ob man als Unternehmen betroffen ist, ist anhand mehrerer Kriterien zu prüfen.

Einerseits gelten wirtschaftliche Kriterien:

  • Die Barrierefreiheitspflicht gilt nur für Unternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von über 2 Millionen Euro.
  • Oder für Unternehmen mit einer Jahresbilanzsumme über 2 Millionen Euro.

Zusätzlich gelten produkt- bzw. servicebezogene Kriterien:

  • Die Barrierefreiheitspflicht gilt für Produkte und Dienstleistungen, die ab dem 28. Juni 2025 auf den Markt gebracht bzw. bereitgestellt werden, insbesondere für:

Websites und mobile Apps, die der Öffentlichkeit Informations- oder Transaktionsdienste bereitstellen,

Digitale Produkte wie Software und Selbstbedienungsterminals (etwa interaktive Kioske),

Elektronische Dienstleistungen einschließlich Onlinehandel, Buchungsplattformen und digitale Bankdienstleistungen.

3. Was verlangt das Gesetz konkret?

Barrierefreiheit als Standard

  • Webseiten und mobile Apps, für die die Pflicht zur Barrierefreiheit gilt, müssen technisch und inhaltlich barrierefrei gestaltet werden.
    Die Anforderungen orientieren sich u.a. an den international anerkannten WCAG-Richtlinien (Web Content Accessibility Guidelines).
  • E-Commerce-Dienstleistungen und „self-service terminals“ müssen so gestaltet sein, dass sie auch von Menschen mit Einschränkungen (Sehen, Hören, Motorik, Kognition) genutzt werden können.

Technische & organisatorische Maßnahmen:

  • Webseiten, Apps, und Automaten müssen nach festgelegten Standards angepasst werden
  • Dokumentationspflichten und mögliche Nachweispflichten gegenüber Behörden
  • Jährliche Selbstbewertungen und fortlaufende Kontrolle der Barrierefreiheit

4. Unterschiede in Deutschland und Frankreich

Während in Deutschland das BFSG erstmals umfangreiche Barrierefreiheitsregeln für private Wirtschaft und bestimmte Produkte/Dienstleistungen bringt, existieren in Frankreich bereits seit Jahren detaillierte Verpflichtungen, die jetzt weiter auf private Akteure ausgedehnt werden.

In Frankreich ist die öffentliche  Dokumentation des Barrierefreiheitsstatus Pflicht. Das BFSG sieht zwar auch Dokumentations- und Nachweisverpflichtungen vor, fordert aber keinen verpflichtenden Online-Auditbericht.

Hier ein kurzer Überblick zu den Unterschieden:

Aspekt

Deutschland
(BFSG – Barrierefreiheitsstärkungsgesetz)

Frankreich
(RGAA, Loi 2005-102 und Dekrete)

Rechtsgrundlage

BFSG (2021), Umsetzung der
Richtlinie zur Barrierefreiheit
(EAA)

Loi 2005-102; Décret n° 2019-768;
Ordonnance n° 2023-1252; Umsetzung
EAA & EU 2016/2102

Geltungsbereich

Hersteller, Händler, Dienstleister –
insbesondere Digitalangebote
(Web, App, E-Commerce,
Terminals) ab 2025;
Ausnahme: Kleinstunternehmen
für Dienstleistungen

Alle öffentlichen Stellen; Private
Unternehmen, deren Angebote
öffentlichen zugänglich sind;
verpflichtend besonders
ab 250 MA/Schwellenwert

Technische Standards

Anlehnung an WCAG 2.1
Web Content Accessibility Guidelines;
Umsetzung durch nationale Norm
DIN EN 301 549

RGAA
accessibilite.numerique.gouv.fr
basiert auf WCAG 2.1; spezifische
nationale Ausgestaltung

Pflichten für
Unternehmen

Barrierefreie Gestaltung von
Webseiten, Apps, E-Books,
Terminals etc. Dokumentationsund
Nachweispflichten;
Selbstbewertung/Monitoring

Barrierefreie Gestaltung nach RGAA;
Verpflichtende Barrierefreiheitserklärung
(„Déclaration d’accessibilité“) auf
Webseiten; jährliche Aktualisierung

Verpflichtende
öffentliche Erklärung?

Nein, aber Dokumentation und
ggf. Nachweis gegenüber
Behörden im Fall der Kontrolle
erforderlich

Ja: Verpflichtende Veröffentlichung eines
Barrierefreiheits-Standards auf jeder
Website („Déclaration d’accessibilité“)

Überwachung und
Sanktionen

Marktüberwachungsbehörden der
Bundesländer; Bußgelder bei
Verstößen, Abmahnrisiko

Mehrere Aufsichtsstellen (u.a. DGCCRF,
CNIL); Bußgelder; VeröVentlichung von
Kontrollberichten

Anwendungsbeginn

28. Juni 2025

Stufenweise seit 2005; für digitale
Privatangebote sukzessive erweitert,
neuer Schwellenwert/Verpflichtungen
ab 28. Juni 2025

Bedeutende
Besonderheiten

Viele mittelständische
Unternehmen erstmals betroVen;
Auch Produkte (z.B. E-Reader,
Terminals) erfasst

Öffentliche Barrierefreiheits-Erklärung
Pflicht; RGAA regelmäßige Audits &
Berichterstattung

5. Übergangsregelung – Was gilt:

  • Das BFSG gilt ab dem 28. Juni 2025 grundsätzlich für neue Dienstleistungen sowie für wesentliche Änderungen bestehender Angebote.
  • Bestandsdienstleistungen, d. h. Dienstleistungen, die bereits vor dem 28. Juni 2025 rechtmäßig bereitgestellt und genutzt werden, dürfen noch bis zum 28. Juni 2030 ohne vollständige Barrierefreiheit fortgeführt werden.
  • Neuerungen und Änderungen: Wird eine bestehende Dienstleistung im Kern verändert oder wesentlich überarbeitet (z. B. technisch neu umgesetzt, Funktionsumfang deutlich erweitert), dann greifen die Barrierefreiheitsanforderungen des BFSG sofort ab dem 28. Juni 2025.
  • Nach dem 28. Juni 2030: Ab diesem Stichtag müssen alle betroffenen Dienstleistungen, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Bereitstellung, vollständig barrierefrei erbracht werden.

6. Was sollten Unternehmen jetzt tun?

Prüfen Sie, ob Sie unter das Gesetz fallen (Wirtschaftliche Kriterien, Produkt/Service-Angebot).
Leiten Sie konkrete Schritte ein:

  • Bestandsaufnahme machen: Welche digitalen Angebote/Dienstleistungen bieten Sie an? Sind betroffene Produkte oder Services darunter?
  • Barrierefreiheit testen: Überprüfen Sie Webseiten, Apps und digitale Prozesse auf Barrierefreiheit (technisch, sprachlich, inhaltlich).
  • Nachbesserungsbedarf identifizieren: Lassen Sie sich idealerweise durch Fachleute/Agenturen zur Barrierefreiheit auditieren.
  • Projekte starten: Anpassungen einleiten (z. B. Design- und Entwicklungsprozess anpassen).
  • Mitarbeitende sensibilisieren: Schulungen für die Bereiche IT, Marketing, Kundenservice.

7. Sanktionen und Kontrollen

Das BFSG sieht Kontrollen durch die Marktüberwachungsbehörden vor. Mängel können mit Bußgeldern belegt werden.

  • In Deutschland ist die Sanktionierung nach dem BFSG primär als förmliches Ordnungswidrigkeitenverfahren organisiert, die Höhe der Geldbußen richtet sich nach Schwere und Dauer des Verstoßes. Zusätzlich besteht immer das Risiko wettbewerbsrechtlicher Abmahnungen mit entsprechender Außenwirkung.
  • In Frankreich ist neben dem Bußgeld und der Verwaltungsermahnung auch explizit die Veröffentlichung der Verfehlung („Name and Shame“) als Druckmittel etabliert. Wiederholungstäter können empfindlichere zusätzliche Maßnahmen treffen.

Weitere Konsequenzen sind in beiden Ländern:

  • Bei öffentlichen Vergaben/Nachweisen kann eine Missachtung der Barrierefreiheit zu Nachteilen führen.
  • Schäden am Markenimage und Vertrauensverlust, insbesondere bei öffentlich gewordenen Verstößen.

8. Fazit: Handeln statt Abwarten!

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist kein „Papiertiger“, sondern betriat viele mittelständische Unternehmen, vor allem jene, die im Online-Vertrieb oder mit digitalen Plattformen aktiv sind. Frühzeitiges Handeln vermeidet spätere Kosten, rechtliche Risiken und fördert die digitale Teilhabe.

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Sprechen Sie uns an – wir beraten Sie gern praxisorientiert und branchenspezifisch!